Video: Internet; Musik: Band; Link: Fehlanzeige
Achtung, es folgt ein vollkommen ungekürztes Zitat eines ganzen Artikels in Originalauszeichnung¹:
Putin-Protestsong als Internet-Hit
29. Jänner 2012 13:36Band könnte bei Großkundgebung am 4. Februar in Moskau auftreten
Rock gegen Putin: Ein scharfer Protestsong gegen den russischen Regierungschef Wladimir Putin hat das Zeug zur Hymne der Demonstrationen für faire Wahlen. „Acht Jahre Präsident, jetzt wieder Kandidat, schau uns in die Augen: Gib es auf, dein Mandat“, singt in einem gut vierminütigem Video eine Band, die sich selbst als frühere Fallschirmjäger bezeichnet. „Du bist ein gewöhnlicher Beamter, kein Zar und kein Gott“, heißt es ebenfalls über Putin in dem Clip, der sich in Windeseile im russischen Internet ausbreitet.
„Niemand außer uns“
Die muskulösen Sänger tragen in dem Video Barette sowie Orden an weiß-blau gestreiften Militär-Unterhemden. Hinter den vier Musikern hängen Flaggen der russischen Luftlandetruppen, deren Wahlspruch „Niemand außer uns“ (Nikto, krome nas) die Musiker mit den Worten: „Niemand außer uns – sagt die Wahrheit laut“ ergänzt haben.
Rückkehr
Die Band trete möglicherweise bei der Großkundgebung am 4. Februar in Moskau auf, hieß es. Putin will nach der Präsidentenwahl am 4. März in den Kreml zurückkehren, wo er schon von 2000 bis 2008 amtierte. (APA/dpa)
derStandard.at: Putin-Protestsong als Internet-Hit
Kommentar
Ein bemerkenswertes Stück Text aus der contentindustriellen Boulevard-Schmiererei, das alles hat, was ein solcher Text braucht: Schrill genug ist diese Meldung auf jeden Fall, und lustig ist sie — bei allem Ernst der jüngsten Wahlfälschungen — auch. Der Text hat auch genau die richtige Länge, um schnell konsumiert zu werden, er ist… *tackertacker*
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…insgesamt 182 Wörter lang. Er macht eigentlich auch Appetit auf mehr, denn das Video hätte man nach der Beschreibung doch gern einmal gesehen.
Aber fehlt da nicht etwas? Ach ja, ein Link auf das Video, der fehlt. Und weitere Quellenangaben gibt es auch nicht. Es steht eben im Internet, dieses Video. Tolle Angabe! Fast so, als brächte ich ein Zitat aus einem Buch und schriebe „Quelle: Buch“ dazu. Oder hätte nicht erwähnt, dass ich hier derStandard (punkt) at
zitiere und „Quelle: Zeitungswebsite“ angegeben. Ohne Link, versteht sich.
Darüber hinaus hat sich der namenlos bleibende DPA-Autor dieses Artikels alle Mühe gegeben, seine scheinbaren „Informationen“ so zu geben, dass es nahezu unmöglich ist, das Video zu finden. Eine Suche nach „никто кроме нас“ — und das setzt schon voraus, dass man irgendwoher weiß oder erraten kann, wie sich dieses „Nikto, krome nas“ in kyrillischen Buchstaben schreibt — ist jedenfalls wenig zielführend; zu beliebt scheint dieses militärische Motto sowohl in Filmen als auch für Verballhornungen und Satiren zu sein, die ich mangels wirklicher russischer Sprachkenntnisse nicht verstehen kann [Dies ist nur ein Beispiel mit einem angehängten „за всех кроме них“, zu Deutsch etwa „mit Ausnahme dieser ganzen Leute“].
Dass es sich um eine Band handelt, wird ebenfalls in diesem Artikel erwähnt, der Name dieser Band allerdings… ach, lassen wir das! So eine Band eben. Ich höre ja auch manchmal Musik von einer Band. Mehr will doch niemand wissen.
Eine Zeitungswebsite, die im Internet übers Internet und seine Phänomene schreibt, ist viel zu oft noch unbrauchbarer als die miesteste Sammlung von Belanglosigkeiten in Form eines Forums und insgesamt weniger informativ als der Chatroom verpickelter Teenager in pubertärer Verzweiflung. Dieser tolle Boulevard-Artikel, der 182 Worte macht, um darin über beinahe nichts zu informieren, ist leider keine Ausnahme und noch nicht einmal besonders schlecht.
Es ist eben die Contentindustrie, die da ihre Internet-Parallelwelten aufbaut; sie möchte sich mitten ins Web stellen, möchte dort ihr früheres Geschäft in eine Zukunft retten, in welcher sie immer entbehrlicher wird, aber mit dem eigentlichen Web nicht viel zu tun haben. Die Idee Hyperlink ist ja erst zwei Jahrzehnte alt und damit so alt wie die ersten Entwürfe des World Wide Web, sie wurde erst vor siebzehn Jahren zum zum technischen Standard im Web — das muss ein Baumbestempler doch nicht gleich mitmachen, dieses neumodische Zeug, von dem niemand weiß, ob es sich mal durchsetzen wird. Also „durchsetzen“ außer auf mehreren Milliarden irgendwelcher Websites.
Wenn ich nicht einen russischen Freund gefragt hätte, wäre es mir auch nach genauer Lektüre des Artikels nicht möglich gewesen, dieses (optisch recht unspektakuläre) Video zu finden, das viel schriller beschrieben wurde, als es ist. Hier ist „НИКТО, КРОМЕ НАС не скажет правду вслух“ (etwa: „Niemand außer uns wird die Wahrheit laut aussprechen“).
Die nur wenigen tausend Aufrufe (zurzeit 4.201) des Videos auf YouTube sind übrigens nicht gerade ein Beleg dafür, dass dieser gestern hochgeladene Song zurzeit viral zur Hymne gegen Wladimir Putin wird. Auch, wenn die Presseschreiber aus einer Parallelgesellschaft des Internet es aus irgendwelchen Gründen gerne so hätten. Vielleicht haben die namenlosen Autoren aus einer Nachrichtenagentur ja auch einfach deshalb keinen Link angegeben², damit niemand bemerken kann, dass dieser Teil der Meldung einfach nur eine Lüge ist, mit der eine „tolle“ Story zum Einkleben zwischen die Reklame in den Zeitungen und ihren Websites produziert wurde.
Wo wohl die anderen „tollen“ Stories der Tittitainment-Abteilung in den Nachrichtenagenturen herkommen, bei denen es nicht so einfach ist, sich die Dinge einfach mal näher anzuschauen?
¹Warum die Kürzung des Artikels in diesem Kontext nicht möglich ist, ergibt sich aus dem folgenden Kommentar.
²In den NITF-Dateien, in denen die Meldungen verbreitet werden, ist die Angabe einer Internetadresse vorgesehen und möglich.
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