Sie reden vom Netz wie Blinde vom Licht

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Wir können es nicht sagen, aber wir sagen es mal…

…denn Hauptsache bleibt es, dass alle angstbesetzten, gefährlichen und tödlichen Dinge begrifflich in die Nähe zum Internet gestellt werden. Auch, wenn dieser Zusammenhang nicht durch die Ermittler, sondern durch eine Nachrichtenagentur hergestellt wird, die den Zeitungen ein paar Textschnippsel liefert, damit die Zeitungen nicht nur aus Werbung bestehen:

Drei junge Frauen im Alter von 16, 18 und 19 Jahren haben in einem Waldstück der Gemeinde Holdorf im niedersächsischen Landkreis Vechta gemeinsam Selbstmord begangen. Wie die Polizei auf einer Pressekonferenz in Cloppenburg mitteilte, ist nach bisherigem Ermittlungsstand ein Fremdverschulden nicht gegeben: „Die bisherigen Erkenntnisse lassen auf einen gemeinsamen Freitod durch eine Rauchgasintoxikation schließen“.

[…] Ob die Frauen sich über soziale Netzwerke im Internet verabredet hatten, konnte die Polizei zunächst nicht sagen.

AFP

Man stelle sich einmal vor, darunter stünde: „Ob die Frauen vor ihrem Freitod das Psychopharmakon Flouxetin genommen haben, konnte die Polizei zunächst nicht sagen“ — Flouxetin ist ein Antidepressivum, das auch häufig ohne begleitende Psychotherapie bei so genannten „Ernährungsstörungen“ verschrieben wird, und eine seine wohlbekannten Nebenwirkungen ist die Erhöhung der Neigung zum Suizid…

Wie anders hätte ein solcher Abschluss doch geklungen!

Nachtrag, einige Stunden später

So kommt die AFP-Meldung, deren Fehlinformation in Hinblick auf das Internet zwar subtil, aber dennoch durchschaubar war, später bei der Presse — hier am Beispiel der Bildzeitung gezeigt — in der von AFP gewünschten Weise wieder heraus:

In großen Buchstaben wird die Assoziation hergestellt: Internet und Tod. Jegliche Unsicherheit über diesen Zusammenhang ist in der Schlagzeile der Bildzeitung auf ein einziges Fragezeichen eingedampft. Der Text ist zugegebenermaßen moderater, aber die Schlagzeile schafft den ersten (und damit oft bleibenden) Eindruck. So funktioniert die tägliche Konditionierung, die Ausbreitung von Furcht, Unsicherheit und Zweifel, die sich diffus ans Internet binden. Internet und Selbstmord. Internet und Amok. Internet und Mord. Internet und Prostitution. Internet und Nazis. Internet und Terror. Internet und Tod. Internet und Kindesmissbrauch. Internet und [angstbesetztes Thema mit Empörungspotenzial hier einsetzen]. Jeden Tag. Andere mögliche Bezüge werden in den massenmedial hergestellten Assoziationen ausgeblendet. Immer nur Internet. Immer nach dem Schema: Unangenehmes, angstbesetztes Reizwort, dass an diejenigen Erscheinungen unserer Gesellschaft erinnert, an die kaum jemand erinnert werden möchte. Und Internet.

So funktioniert Konditionierung, und sie funktioniert leider erschreckend gut. Aus den zentralen und eher undurchschaubaren Strukturen der Presseagenturen als tägliche Dressur direkt in die Gehirne. Jeden Tag ein bisschen mehr. So schafft man nach und nach die psychologischen Grundlagen, auf denen Zensur, teilweise Verbote und weit gehende Überwachung aller Menschen im Internet mit wenig nennenswerten Widerstand durchgesetzt werden können.

Übrigens hat die agenturzentral gebildete Meinung für die Benennung solcher Strukturen in der Presse auch ein Wort. Es lautet: Verschwörungstheorie. Und Internet.

Nachtrag Zwei

Der Stern muss in einem Artikel auf seiner größtenteils entbehrlichen Website zwar am Ende einräumen…

Die Ermittler gehen nun der Frage nach, ob sie sich über soziale Netzwerke im Internet verabredet hatten

…dass zurzeit nichts über irgendeinen Internet-Bezug dieser Selbsttötungen bekannt ist. Das hindert den Stern aber nicht daran, in der Hauptsache seines hingeschmierten Artikels so zu tun, als sei dieser Internet-Bezug eine „abgemachte Sache“:

Nach dem kollektiven Freitod dreier junger Frauen in Niedersachsen hat sich ein Experte für suizidgefährdete Jugendliche gegen ein generelles Verbot von Internet-Foren zum Thema Selbstmord ausgesprochen. „Das sind Foren, in denen sich Betroffene austauschen und sehr konkret über ihre Leiden und ihren Seelenzustand berichten“ […]

Immer schön das Wort „Internet“ in den Kontext angstbesetzter Themen setzen, damit das alles seine Wirkung entfalte… aber das habe ich ja schon weiter oben geschrieben.

Nachtrag Drei

Man weiß zwar, nüchtern betrachtet, immer noch nichts zu sagen, aber jetzt hat es die RP Online ihren Lesern als wahrscheinlich — also als etwas, was wahr zu sein scheint — erklärt (Fettdruck aus dem Original-Teaser):

In Niedersachsen haben sich drei junge Frauen das Leben genommen. Wahrscheinlich lernten sich die Mädchen im Internet kennen und planten dort gemeinsam ihren Selbstmord. Die genauen Motive sind noch unklar.

Und woher kommt dieses immer größer werdende Maß an Gewissheit darüber, dass hier für drei junge Frauen das Internet eine so wesentliche Rolle bei der Planung ihres Freitodes spielte? Es kommt jedenfalls nicht aus einem Fortschritt in der immer noch laufenden Ermittlung, wie sich etwas tiefer im Text (und nicht fett, sondern völlig normal gesetzt) nachlesen lässt:

Die Ermittler vermuten, dass sie sich über das Internet verabredeten. Ihre Computer werden in den nächsten Tagen entsprechend ausgewertet.

Ich habe ja keine Lust mehr, in dieser unerquicklichen Geschichte Nachtrag über Nachtrag zu schreiben, aber es ist schon sehr deutlich, wie aus der auffallend (und mutmaßlich bewusst) internetängstlichen Hinzufügung einer Nachrichtenagentur im Laufe des journalistischen Lebenszyklusses der „Story“ ein immer größeres Maß an Gewissheit bei gleichzeitigem Fehlen jeder halbwegs gesicherten Kenntnis über die wirkliche Vorgeschichte der Tat wird. Und ganz wichtig: Internet und Selbstmord, Selbstmord und Internet — immer schön zusammen nennen. So entsteht der von den Herausgebern der Zeitungen gewünschte Eindruck. So, und nur so.

Nachtrag Vier

Die Waldeckische Landeszeitung / Frankenberger Zeitung nötigt mich jetzt zum Schreiben des vierten Nachtrags, denn sie hat sich eine weitere nicht vorhandene „Information“ ausgedacht und lediglich durch ein Fragezeichen als die pure Spekulation gekennzeichnet, die sie ist. Eine „Information“, die so richtig Angst vorm Internet ausbreiten kann (und wohl auch ausbreiten soll):

Gemeinsam sterben – mit Anleitung aus dem Internet? Drei Teenager haben sich in einem Wald bei Cloppenburg das Leben genommen. Sie hatten sich möglicherweise in einem „Suizidforum“ zum Selbstmord verabredet.

Das hatten wir noch nicht. Dass es im Internet Anleitungen dafür gibt, wie man sein als widerwärtig und quälend empfundenes Leben beenden kann. Oder diesen Gedanken etwas in der vom Schreiber mutmaßlich erwünschten Richtung weitergedacht: Ohne Internet wären die drei jungen Frauen noch am Leben, weil sie gar nicht gewusst hätten, wie man sein Leben beendet. Das ist ja ansonsten ganz großes Geheimwissen, das nur eine Handvoll Eingeweihte in Zeitungen, Romanen, Filmen, Fernsehproduktionen oder der Bibel finden können.

Das ist aber auch gefährlich und mörderisch, dieses Internet!

Abschalten! Weg damit! Wenn nur ein einziges Leben gerettet wird (selbst, wenn der Mensch mit diesem Leben darauf gern verzichtet), ist das kein zu großes Opfer!

Ich werde langsam fast so zynisch wie die Journaille und habe wirklich keine Lust mehr, dieses Thema zu verfolgen.

Abschließender Nachtrag, 26. August, 10 Tage später

Ich habe trotz meiner wachsenden Unlust versucht, das mediale Echo dieses kollektiven Suizides weiterhin über Google News zu verfolgen.

Nur: Das Thema „Internet-Selbstmord“ verschwand plötzlich. Es gab jetzt eine Woche lang keine einzige Meldung mehr. Was bei der forensischen Analyse des Computers herausgekommen ist — zumindest die Frage, ob gewisse Forensites in der History des Browsers erscheinen und ob Anmeldecookies von Forensites im Browser gespeichert sind, lässt sich mit einem Analyseaufwand von höchstens zwei Stunden ermitteln — scheint nicht mehr von Interesse zu sein. Es gibt offenbar keine Nachfragen bei den Ermittlern, kein Verlangen, über diese Gruselstory Internet macht junge Frauen zu Selbstmördern weitere Details zu berichten.

Über die Gründe kann ich nur spekulieren. Genau, wie der Apparat der Contentindustrie über die Hintergründe des kollektiven Freitodes nur spekulieren konnte — und dies auch tatkräftig gemacht hat.

Ich kann nichts anderes annehmen, als dass die voranschreitenden polizeilichen Erkenntnisse die so schlagzeilenträchtigen und horrorgeilen Mutmaßungen nicht bestätigen konnten. Dass sie einfach nicht mehr spektakulär genug waren, um damit Papier zu bedrucken, mit dem in Wirklichkeit Werbung an die Leser gebracht werden soll. Dass sie auch nicht mehr geeignet waren, diese dumpfe Angst vor dem Internet zu schüren, die so gern und bereitwillig von der Journaille geschürt wird. Ja, um es zynisch zu sagen: Dass die drei Leichen jetzt ihre Schuldigkeit getan haben, weil ja ein paar Tage lang die Wörter „Internet“ und „Selbstmord“ schön in einem Kontext gestellt werden konnten, der nachhaltige unbewusste Ängste auslöst. Eine mögliche Korrektur oder Relativierung dieser gesäten unbewussten Ängste ist hingegen nicht erwünscht.

Und jetzt ist halt die Zeit für andere Themen in der Zeitung. Und neben den „Themen“, die überwiegend direkt aus dem NITF-Ticker der großen Agenturen übernommen werden, dass die Blätter fast so gleichgeschaltet klingen wie in einer Diktatur, steht die Reklame mit ihren photoshopretuschierten Frauenbildern. Mit Bildern, die so surreal sind, dass ich immer wieder miterleben musste, wie bildhübsche Frauen wegen dieser Vorlage völlig zugekokster Werber ein dermaßen gestörtes Selbstbild entwickelten, dass sie ernsthaft depressiv wurden und sich deshalb medizinisch behandeln lassen mussten.

Ja, eine hat sogar versucht, sich die Pulsadern aufzuschlitzen. Sie fand sich „hässlich“ und „zu dick“. Sie hatte übrigens bei Einlieferung in die Klinik acht Kilo Untergewicht.

Aber das ist ein anderes Thema. Und die Assoziation „Selbstmord und Internet“ ist jetzt erstmal von der gleichen Journaille, die ihr Geschäft mit dem Transport dieser Werbung macht, in die Gehirne gestreut worden.

Und morgen schon versuchen die Lobbyisten der Contentindustrie wieder, ein so genanntes „Leistungsschutzrecht“ für ihre Elaborate durchzusetzen. Damit sie auch dann so weitermachen können, wenn kaum noch jemand diesen täglichen Zynismus und diese zuweilen unfassbare Menschenverachtung seinem Leben hinzufügen möchte. In ihren Leitartikeln werden sie allerdings weiterhin von den Kräften des „freien Marktes“ sprechen…

Weiterer Nachtrag, nur eine Stunde später

Es könnte dazu kommen, dass die Geschichte noch einmal hochgekocht wird, denn die drei jungen Frauen (warum schreibt eigentlich alles „Mädchen“, um sie „niedlicher“ zu machen und ihre „Kindischkeit“ zu betonen) haben sich vorher über so genannte „soziale Netzwerke“ und Webforen ausgetauscht.

Erfreulicherweise hat die Polizei keine Einzelheiten preisgegeben. Das heißt: Alles, was eventuell in den nächsten Stunden zu diesem Thema geschrieben wird, geht nicht auf das heute veröffentlichte Ergebnis der forensischen Untersuchungen zurück. Im besten Fall ist es Recherche, und im schlimmsten Fall ist es reine Fantasie.

Nachtrag Sechs, 5. Oktober 2011

Inzwischen hat das Thema auch das Fernsehen in Form von „Spiegel TV“ erreicht, und wie unpassend es dort aufbereitet wurde, kann man am besten im Bildblog nachlesen. Bei den meisten Zuschauern wird freilich nur dieser eine Eindruck in Erinnerung bleiben:

In zahlreichen Selbstmordforen würden Ratschläge angeboten, „die in ihrer Ausführlichkeit an Bedienungsanleitungen erinnern“ […]

Gegen den Betreiber der Seite […] können deutsche Behörden übrigens nur schwer vorgehen, eben weil er seinen Sitz auf den Bahamas, sprich: im Ausland, hat.

Dies natürlich eingebettet in den üblichen psychischen Manipulationsapparat einer Fernsehproduktion, in bewegende Bilder und emotionalierende Musik. Damit es besser wirkt. Schließlich soll ja die große Internetangst ausgebreitet werden.