Sie reden vom Netz wie Blinde vom Licht

Unterhaltung im Tosen der Fakten

Das Informationsvolumen, das ein heutiger Mensch an einem einzigen Tag aufnimmt, ist wahrscheinlich größer als alles, was Landbewohner vor einigen Jahrhunderten in ihrem Leben kennenlernten. In einer Tageszeitung stehen mehr Fakten, als ein Mensch des achtzehnten Jahrhunderts bis zu seinem Tod erfuhr, und auf der Fifth Avenue in New York, auf den Champs-Elysées in Paris oder auf der Shiyuba-Kreuzung in Tokio sieht man an einem gewöhnlichen Mittag mehr Menschen, als unsere Vorfahren je zu Gesicht bekamen.

Das Tosen der Fakten um uns herum wird durch Entertainment geschickt und kommerziell kanalisiert oder ausgeblendet und im Cyberspace eröffnen sich noch einmal neue Möglichkeiten sich zu informieren oder in Chatrooms und Games gleich neu zu erfinden.

Frankfurter Rundschau: Die Unordnung der Dinge

Kommentar

An diesem die Leser malträtierenden Meisterwerk der verborgen verabreichten Verdummung entzücken vor allem zwei Dinge:

Erstens, dass ein contentindustriell erstelltes Elaborat wie eine einzige Ausgabe einer Tageszeitung mehr „Fakten“ transportiere, als ein einzelner Mensch im achtzehnten Jahrhundert im Verlaufe seines ganzes Lebens in die Sinne gepresst bekam.

Und zweitens, dass das Internet — hier zur Verschleierung der Absicht mit dem eher unüblich gewordenen Begriff „Cyberspace“ gefasst — nicht etwa nur ein „noch mehr“ wäre, sondern dazu führe, dass sich Menschen von sich selbst entfremdeten und sich in Chatrooms oder Games neu erfänden. Also: Dass sie ein von den Bedingtheiten ihres „richtigen Lebens“ losgelöstes Ersatzleben zu leben begönnen. Eine Gefahr, die Herr Philipp Blom, der hier in zugegebenermaßen gesteigerter sprachlicher Eleganz für ein Produkt der Contentindustrie schreibt, in den Produkten der Contentindustrie offenbar nicht zu erblicken scheint, obgleich die dort dargebrachten Informationen von der Lebenswirklichkeit der Menschen oft weiter entfernt sind als der Mond. Dazu passt es übrigens prächtig, dass dieser Autor es vortrefflich versteht, so von „Chatrooms“ zu schreiben, dass der kundige Leser genau spürt, dass er noch niemals einen IRC-Client bedient hat.

Ich weiß nun nicht, wie die Internetnutzung eines Philipp Blom aussieht. Aber ich weiß, wie die Internetnutzung von Menschen aussieht, die ich kenne. Etwa ältere Menschen, die so eine Volkskrankheit wie Divertikel im Darm haben. Ja, das ist eine häufige Krankheit, die erhebliche Beschwerden verursachen kann. Aber weil es kein so gutes Geschäft für die Pharmaindustrie ist, gibt es angesichts der Häufigkeit der Krankheit verblüffend wenig Informationsmaterial für die Betroffenen. Auch Ärzte sind eher schlecht informiert, und wer zu mehreren Ärzten geht, hört oft sogar völlig gegensätzliche Tipps, wie er sich ernähren soll und was er in seiner Lebensführung beachten soll, um schmerzhafte und gefährliche Entzündungen an den Divertikeln zu vermeiden. So etwas wird von den Ärzten natürlich nicht mit einem einschränkenden „Ich kenne mich damit auch nicht so gut aus“ vorgetragen, sondern im üblichen autoritären Arztton. Mit ihren gar nicht so seltenen Ängsten angesichts der Möglichkeit einer Operation sind die Menschen auch allein gelassen.

Da hat es zumindest einem Menschen, den ich persönlich kenne, sehr gut getan, einfach mal über das Internet nach anderen Menschen mit dem gleichen Leiden zu suchen und ein bisschen Erfahrungsaustausch unter Betroffenen zu machen. Das geschah nun freilich nicht in irgendwelchen „Games“ und weit jenseits des hochgejubelten Web-Zwo-Null-Bullshits über einfache Webforen — und, zugegebenermaßen, auch manchmal in einem Chat. Die Möglichkeit zum Offenen-darüber-kommunizieren-Können war allein schon viel wert, die Einsicht, dass es sich um eine relativ häufige Krankheit handelt und dass man in seinem Leiden und seinen Ängsten nicht allein ist, wirkte psychologisch stärkend und die vielen kleinen Tipps, die man sich untereinander gab, machten das Leben erträglicher. Die Erfahrungsberichte, die Menschen nach ihrer Operation ausgetauscht haben, hatten mehr Potenzial, einem fühlenden Menschen die Angst vor dem Eingriff zu nehmen, als alles kalte Reden der Ärzte.

Zumindest in diesem Beispiel hat sich ein Mensch nicht „neu erfunden“, sondern nach Jahrzehmnten der medialen Bevormundung und der täglichen Gewöhnung ans Denkenlassen überhaupt erst gefunden: Gefunden als selbstverantwortliches Wesen, das in seiner Lebenssituation vernünftige Entscheidungen fällt. Man könnte auch von Würde sprechen, wenn dieses Wort im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs nicht jeden Tag durch die Gülle gezogen würde. Und das ist nur ein Beispiel, ich könnte sehr viele derartiger Beispiele nennen, wenn ich mich nicht kurz fassen wollte.

Dass Menschen, die sich als selbstverantwortlich handelnde Wesen erleben, nicht im Interesse einer Contentindustrie sind, die davon lebt, dass sie den Menschen das Denken abnimmt und ihnen jeden Tag aufs Neue sagt, was für sie wichtig ist und was sie wirklich wissen wollen, überrascht mich nicht. Solche Menschen wären übrigens auch eine schlechte „Zielgruppe“ für die eigentliche Kommunikation der Contentindustrie: Die überreichlich dargebotene Werbung, mal gekennzeichnet, und mal im redaktionellen Teil verborgen.

Für das „geschickte und kommerziell kanalisierte Entertainment“ verwendet dieser Mensch übrigens weiterhin die Glotze und die Tageszeitung — fand jedoch beides im Laufe des letzten Jahres immer unerträglicher.

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